Im Bilde: Das Ich

Tilman Rau / Ulrike Wörner / Yves Noir

Die Werkstatt: Ein Weg zur Poesie

Schreibwerkstätten sind nichts Neues. InAmerika hat der Studiengang creative writing bereits lange Tradition. Und auch in Deutschland hat man das anfängliche Misstrau en gegen solche Kurse überwunden, so dass entsprechende Studiengänge mittlerweile auch hierzulande angeboten werden. Freilich in unterschiedlicher Qualität und Ausrichtung.

Der Friedrich-Bödecker-Kreis Baden-Württemberg bietet in Zusammenarbeit mit derLKJ Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung seit Ende 1999 Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendliche an.

Dahinter steht nicht etwa der Wunsch, Nachwuchsautoren heranzuziehen und den ohnehin satten Literaturmarkt (der währenddes letzten Jahrzehnts alles getan hat, um sich den Prinzipien des Popmusik-Marktes anzunähern) mit weiteren Texten zu füttern.Vielmehr geht es darum, ein neues Verständnis für Literatur zu wecken. Die Teilnehmer der Kurse sollen sich mit Literatur beschäftigen, sie sollen sich von ihr inspirieren lassen und Poesie als Erlebnis begreifen. Ganz neben-bei lernen sie dabei das Handwerkszeug ihre reigenen Sprache kennen und gebrauchen.Wer einmal versucht hat einen Text zu schreiben, an ihm arbeitet, ihn x-mal überarbeitet,wird danach jedes Buch buchstäblich mit anderen Augen lesen.

Im Laufe der letzten Jahre haben sich dieThemen der Werkstätten kontinuierlich verfeinert und differenziert. Mit Lyrik und Slam Poetry fing alles an. Nach und nach kamen weitere Kurse hinzu, mittlerweile umfasst dasAngebot auch die Spezialgebiete Reportage,Rap, Prosa, Krimi, Comic, Fantasy & Science Fiction, Liedermacher, Sprechkunst und Maskentheater. Wichtig war und ist uns, interdisziplinär zu arbeiten, also verschiedeneKunst richtungen mit Literatur und dem Schreiben zu verbinden.

Text und Photographie: Neue Herausforderungen

So entstand 2003, durch die Zusammenarbeit von Yves Noir, Tilman Rau, Boris Kerenski und Ulrike Wörner, das Konzept für dieLiteratur- und Photo-Werkstatt: Das Ich.Innen- und Außenansichten.

Die Grundidee ist denkbar einfach. AlleTeilnehmer sollen von einem professionellenPhotographen abgelichtet werden: einmal mit offenen, einmal mit geschlossenen Augen. Zu beiden Portraits sollen dann Texte entstehen.

Durch die Erweiterung des kreativen Schreibkurses um das Medium der Photographie entstehen neue Schwerpunkte und Möglichkeiten, aber auch neue Herausforderungen. Bisher ging es um die Vermittlung literarischer Grundlagen und die Anregung, mit Hilfe von Sprache eigene Befindlichkeiten und  Ideen nach literarischen Gesichtspunkten umzusetzen. Im Idealfall entstand dabei Poetisches in Form von Gedichten, Kurzgeschichten, Miniaturen und anderen Texten. 

All diese Formen beinhalten die Möglichkeit,die eigene Persönlichkeit und die eigenenIdeen nicht nur einzubringen, sondern sich selbst als Person hinter und in einem Text zu verstecken.

Die Photographien machen dies unmöglich,indem sie den Menschen aus seinem Versteck holen und seine Oberfläche für den Leser/Betrachter sichtbar machen.

Für die Teilnehmer selbst besteht die Herausforderung darin, sich auf bildliche Weise mit sich selbst zu beschäftigen und hinter die eigene Oberfläche zu dringen, ohne sie dabei jemals außer Acht zu lassen.

Die Photos: Persönlichkeit und Reduktion

Dass es sich dabei um Momentaufnahmen handelt – bei den Bildern ebenso wie bei denTexten – ist selbstverständlich. Es sind faszinierende und poetische Momentaufnahmen.

Zur Philosophie der Literatur- und Photowerkstatt gehört, dass alle Teilnehmer in einem weißen T-Shirt, ohne Schmuck, Make-up oder modische Attribute abgelichtet werden. Dadurch wird eine soziale und geschlechtliche Gleichstellung evoziert, imMittelpunkt steht der Mensch.

Es ist die Abwesenheit aller Elemente, die uns sonst voneinander unterscheiden oder uns in einen bestimmten (geographischen, zeitlichen und sozialen) Rahmen einordnen, die dieBesonderheit der Photographien ausmacht.

Die Neutralität wird durch die zeitloseDarstellung erreicht, die Einordnung in einen Nicht-Ort (durch den neutralen Hintergrund)sowie durch die Zentralperspektive, um denBlickwinkel von Betrachter und Betrachtetem gleich zu stellen. Eine zusätzliche farblicheReduzierung entsteht durch die Verwendung von Schwarzweiß-Filmmaterial.

Die Photos der Jugendlichen spiegeln zweiBewusstseinszustände wieder, wobei das Bild mit geschlossenen Augen für den Einzelnen ein unbekanntes ist und so eine neue Perspektive des Ich aufzeigt. Außerdem bietet nur die Photographie, im Gegensatz zumSpiegelbild, eine reale Abbildung des Äußeren.

Die Texte: Imitation und Kreativität

Die Jugendlichen haben, bevor sie die Schreib -werkstatt besuchen, sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Schreiben gemacht.Während es für die einen selbstverständlich ist, ihre Gedanken und Ideen in Tagebüchern, Gedichten, Briefen und Kurzgeschichten aus-zudrücken, haben andere die geschriebene Sprache in erster Linie als ein notwendigesÜbel des Schulunterrichts erlebt.

Deshalb gehört es zum Grundlagenprogramm eines jeden Workshops, Zugänge zum Schreiben aufzuzeigen. Ähnlich wie im Sport handelt es sich dabei um eine Aufwärmphase. In der Regel beginnt der Workshop mit den Stilübungen des französischen SurrealistenRaymond Queneau. Queneau hat in seinem Bändchen einen kurzen Text mehr als hundert Mal variiert und so aufgezeigt, auf welch unterschiedliche Weise sich Inhalte darstellen lassen. So wird die Geschichte mal vom Anfang zum Ende, mal vom Ende zum Anfanger zählt, mal in Form einer Mini-Tragödie, mal als Alexandriner, mit Hilfe von Lautmalereien oder mit Hilfe von Verdopplungen.

Diese Übung, mit einem neuen Ausgangstext, gibt den Teilnehmern einen ersten Eindruck der formalen Möglichkeiten von Sprache und Literatur.

Auch das Schreiben von Cut-up-Texten, deren Ursprung in der Literatur der Beat Generation zu finden ist, kann als zeitgemäßer Umgang mit literarischen Texten angesehen werden:Samples sind jedem Jugendlichen aus der aktuellen Musik bekannt. Alle Cut-up-Texte entstehen aus den Texten zeitgenössischer Dichter und Dichterinnen.

Die Aufgabe automatisch zu schreiben, ist einweiterer Bestandteil der Schreibwerkstatt.Die sogenannte écriture automatique wurde von den Surrealisten als Möglichkeit gesehen,Unbewusstes aufs Papier zu bringen und ist eine hervorragende Materialsammlung und Basis für eigene literarische Texte.

Da die Übungen aus allen Epochen der modernen Literatur bzw. der Avantgarden stammen, lernen die Teilnehmer nebenbei noch Teile der Literaturgeschichte kennen, die der Schulunterricht gerne ausspart: Dadaismus, Surrealismus, Beat Generation sowie Neueste Literatur. Einer der wichtigen jungen Autoren ist Jonathan Safran Foer (Jahrgang 1976), auf dessen Traumsequenzen aus Alles ist erleuchtet wir uns beziehen.

So entstehen, Schritt für Schritt, mit Rückgriff auf bekannte Autoren, auf bewährte Schreibübungen, Miniaturen, die explizit zu den Photos geschrieben werden.

Die Ergebnisse: Faszination und Kommunikation

Was man den Ergebnissen nicht ansieht, ist der lange Prozess und die immense Leistung, die dahinter stecken. Auch wenn die Workshops in der Regel nur zwei bis drei Tage dauern, haben die Jugendlichen in dieser Zeit meist eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen.

Vor allem die Konfrontation mit den Bildern ist für viele Jugendliche eine besondere Herausforderung. Die meisten haben sich noch niemals auf diese Weise selbst betrachtet. Ungeschminkt und ohne Posen, schmucklos und nüchtern, distanziert und nah zugleich, geradlinig und ehrlich. Aus einer Perspektive und unter Umständen, die kein Spiegel jemals erlaubt.

Anfängliches Erschrecken ist keine selteneReaktion, und viele brauchen Stunden, um das, was sie plötzlich sehen, hinzunehmen und sich so zu akzeptieren. Entsprechend ehrlich, unmittelbar und intensiv sind die Texte,die im Verlauf dieses Prozesses entstehen.Auch wir selbst haben einen Prozess durchlaufen. Denn die Symbiose aus Photographie und Text auf diese Weise herzustellen, war auch für uns ein Experiment. Nach einer ganzen Reihe von Werkstätten kann man jedoch sagen, dass es geglückt ist.

Die Form hat ihren Platz in der Reihe unserer Werkstätten gefunden. Seinen experimentellen Charakter hat der Workshop für dieTeilnehmer jedoch nicht verloren.

Die Ergebnisse, die bereits bei mehreren Ausstellungen zu sehen waren und die wir hier als Auswahl präsentieren, haben unsere Vorstellungen, die wir zu Beginn der Arbeit hatten, bei weitem übertroffen. Die Unmittelbarkeit und die Ehrlichkeit von Text und Bild üben eine große Faszination aus.

Außerdem zeigen sie ganz neue Formen von Kommunikation. Diejenige, die zwischen den Jugendlichen und ihren Bildern ablief, und diejenige, die sich zwischen den Bildern mit ihren Texten und dem Betrachter entwickelt.

Dem Workshop ist es gelungen, so finden wir, zwei Medien so gleichwertig und symbiotisch darzustellen, dass sie sich gegenseitig ergänzen und illustrieren.

 

TILMAN RAU *1971

Studium der Politikwissenschaft, Amerikanistik und Neueren deutschen Literatur in Tübingen. Lebt als freier Schriftsteller, Journalist und Dozent in Stuttgart.

Literarische, literaturwissenschaftliche und journalistische Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitungen und Anthologien.

ULRIKE WÖRNER *1969

Studium der Allgmein und Vergleichenden Literaturwissenschaften, Politikwissenschaft und Germanistik in Stuttgart.

Geschäftsführerin des FBK Baden-Württemberg. Literarische und literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen in diversen Zeitschriften und Anthologien.

YVES NOIR *1967

Geboren in Strasbourg, lebt seit 1985 in Deutschland. Nach langjähriger Assistenz bei dem Photographen Jean-Marie Bottequin in München, arbeitet Noir seit 1994 als freier Photograph und Dozent in Esslingen.

Ausstellungen in Deutschland und Frankreich, diverse Veröffentlichungen in Photo-Zeitschriften und Anthologien.

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