Im Spannungsfeld der Systeme.
Französische und deutsche Gesellschaft, Schwarzweiß und Farbe, katholisch und evangelisch - das Leben mit zwei Systemen und all deren Gegensätzen ist für den Fotokünstler Yves Noir seit jeher Alltag. 1967 in Strasbourg in Frankreich geboren, wuchs er zweisprachig auf und verbrachte die Schulzeit als evangelisch getaufter Schüler in einem katholischen Internat. „Wenn man immer nur in einem einzigen System lebt, ist man sich nicht bewusst, überhaupt Teil eines solchen zu sein", er-klärt der Künstler. "Um die Systematik einer Gesellschaft zu entdecken, muss man erst einmal erkennen, dass überhaupt etwas anderes existiert." Erst dann könne man sich entscheiden – oder zwischen den Systemen leben, gegebenenfalls auch mit ihnen, in einer "Schnittmenge".
In Bezug auf das Spannungsfeld "Beruf – Berufung" hat Yves Noir sich sehr eindeutig entschieden – für die Fotografie, genauer gesagt seine eigene Version davon, die „Lichtbildnerei“. "Der Ausdruck transportiert für mich genau das, was meine Bilder sind", sagt Noir. Seine erste Kamera bekam er im Alter von zwölf Jahren – und verwendete sie "ohne Ambitionen, um die Welt mit Bildern abzustecken" und sich "einen Rahmen aus festgehaltenen Momenten zu schaffen". Als er 1985 nach Deutschland kam, wandte er sich der Fotografie wieder zu – vorerst in München, als Assistent des belgischen Fotografen Jean-Marie Bottequin, später dann mit einer Ausbildung im Bereich Mediendesign. Und lebt heute im Spannungsfeld der Systeme "Freie Arbeit – Auftragsarbeit". Im Auftrag fotografiert er unter anderem Portraits und Pressefotos oder erarbeitet Konzepte - beispielsweise für den Friedrich-Bödecker-Kreis Baden-Württemberg. "Das Ich – Innen- und Außenansichten" ist ein solches Projekt, das Noir gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Ulrike Wörner und dem Journalisten Tilman Rau erarbeitet und unter anderem im Literaturhaus Stuttgart umgesetzt hat.
Betrachtet man seine in freier künstlerischer Arbeit entstandenen Fotografien, sieht man sich Gemälden in Schwarzweiß gegenüber, Malereien aus Licht und Schatten. Menschen – aber nicht in den Posen der Aktfotografie. "Mein Anliegen ist es, den Menschen in seinem ursprünglichen Zustand zu zeigen", erklärt Noir. „Ursprünglich war Kleidung ja nicht viel mehr als ein Witterungsschutz, heute verkleiden wir uns damit. Mich interessiert, was vom Menschen bleibt, wenn diese Kostümierung fehlt."
Um erotische Darstellungen geht es Noir hier ausdrücklich nicht. "Ich möchte der Person aufzeigen, wie sie sein könnte, wenn sie sich der Erziehungsgesetze, der zivilen und auch der religiösen Kleidung entledigt." Es geht um die "Substanz des Menschen" und um die natürliche Ästhetik des Körpers in seiner Verletzlichkeit – ohne die Person dabei bloßzustellen. In seiner neuen Serie "Simulation", die er im Rahmen der Gruppenausstellung "Fokus 0711" im Württembergischen Kunstverein ausstellt, geht es zudem noch um den "Menschen in der Gesellschaft". Noir zeigt die Begrenzungen, indem er Personen in Räumen ablichtet, die den Aktionsradius der Person deutlich abstecken: mit Ecken, Kanten und Wänden. "Damit stelle ich die Frage, wo sich der Mensch in der Gesellschaft platziert. Und versuche dabei auch die Täuschung der absoluten individuellen Freiheit zu hinterfragen“, so Noir.
Eine Verneigung vor dem Menschen ist seine Entscheidung, ausschließlich mit analogen Mitteln zu arbeiten. Deshalb fotografiert er in Schwarzweiß, mit meist nur einer Lichtquelle. Das Format seiner Bilder ist ebenfalls bewusst gewählt: nicht die Gefälligkeit von Querformat, nicht die Dynamik des Hochformats, sondern das neutrale Quadrat. Die Bilder zieht er selbst im Labor ab – "Photokunst" in Handarbeit. "Bei digitaler Fotografie würde ich den Menschen, von dem ich mir ein Bild mache, auf 0 und 1 reduzieren. Das möchte ich nicht", erklärt Noir. Und die Qualität ist natürlich auch ein Argument. Wobei er kein Problem damit hat, die fertigen Bilder zu scannen und sie größer auszudrucken. Auch hier legt sich Yves Noir nicht ausschließlich auf ein einziges System fest. "Eine absolute Wahrheit gibt es nicht", meint er dazu und lacht. "Es gibt nur andere Wahrheiten – sie sind nicht besser, nur anders."
Nina Blazon