Eindeutig uneindeutig
Zur Fotoserie „Out of Raw“ von Yves Noir
Ungewohnt: Yves Noir schafft es, mit seiner Fotoserie „Out of Raw“ Emotionen beim Betrachter auszulösen, ohne das Gesicht seines Models oder etwaige Lebensverhältnisse zu zeigen. Wir sehen einen nackten, von den Bildkanten des gewählten Ausschnitts beschränkten Frauenkörper. Keinen Raum, keine Möbel, keine Utensilien, keinen ganzen Kopf. Die Protagonistin präsentiert ihre Blöße vor und auf einer nicht weiter definierten, weißen, neutral-sterilen Fläche. Wobei „präsentiert“ ein unadäquates Wort ist. Denn mit präsentieren im Sinne von Posen haben ihre Gestiken nichts zu tun. Vielmehr scheint es so, als wären die Aufnahmen fast beiläufig entstanden, während die Person gelangweilt auf irgendwen oder irgendwas gewartet hat. Ihr Körper ist nicht schön. Nicht im klassischen Sinne. Aufgeplatzte Äderchen und harte Knochen drücken an die Außenwand ihrer nicht mehr jungen Haut. Und trotzdem geht von den offensichtlich mit viel Zeitaufwand entstandenen Fotografien eine enorme Poesie aus. Einige Fotos zeigen eindrucksvoll beleuchtete Körper-Torsi, andere offenbaren eine stille Körperlandschaft mit Hügeln und Büschen. Oberschenkel und Hüfte werden zur Gesteinsformation, Hautfalten zu Felsspalten.
Eindeutig: Wir haben es hier mit einem echten Menschen zu tun, nicht mit einem typischen Fotomodel. Nichts ist beschönigt. Die Fotos sind (wie ihr Titel schon sagt) „out of raw“, roh, quasi naturbelassen, die 1:1-Resultate aus der Kamera, Äquivalente der „raw“-Dateien. Niemand hat die Muttermale retuschiert oder die Poren durch den Weichzeichner gejagt. Die Reduziertheit der Farben (wir sind fast in Versuchung, von Schwarz-Weiß-Fotografien zu sprechen) ist allein durch entsprechende Beleuchtung und nicht durch digitale Nachbearbeitung erreicht.
Die Ambivalenz der Motive ist sicherlich einer der Hauptreize der Fotoserie. Das von Yves Noir zur Fotosession eingeladene Model ist weder jung noch alt, weder eindeutig hässlich noch eindeutig schön. Ist sie krankheitsbedingt dünn oder will sie ihren Körper genau so haben? Wie viele Fragen des Lebens so lassen sich auch diese nicht eindeutig beantworten. Genau aus diesem Grund habe ich 2013 diese Fotoserie in meine Gruppenausstellung „Gürtellinie“ integriert, in der fünf Fotokünstler die Grenzlinien zwischen Erotisch und Unerotisch austariert haben.
Marko Schacher, Galerist und Kurator
Stuttgart, August 2017