Gezinkte Würfel (Kurzfassung)

Einige persönliche Gedanken zu den Reihenbildern von Yves Noir

von Jürgen Palmer

Die jüngsten fotografischen Arbeiten von Yves Noir – er nennt sie „outfits“ – weisen ein extremes Querformat auf. Es rührt daher, dass jede Arbeit aus sechs nebeneinander gestellten Einzelbildern besteht.

Auf allen Bildern ist dasselbe Modell zu sehen: die Burlesque-Tänzerin Zouzou la Vey, mit der Yves Noir schon mehrfach gearbeitet hat.

Die Figur ist immer perfekt ausgeleuchtet und mit einem direkten Zugriff erfasst. Statuengleich ist die menschliche Figur inszeniert. Die Künstlichkeit der Kunstfigur tritt in den Vordergrund, Gefühlsregungen oder persönliche Hintergründigkeiten spielen keine Rolle. Das geschminkte Gesicht, das in den Serien überhaupt nur zwei Mal vollständig zu sehen ist, hat einen gleichbleibenden, fast maskenhaften Ausdruck. Der Blick ist exakt auf den Betrachter gerichtet, der Mund immer leicht geöffnet.

Alle Figuren sind oben oder unten, meist sogar oben und unten, bis auf eine Ausnahme jedoch nie seitlich angeschnitten. Die Einzelbilder berühren oder überschneiden sich nicht gegenseitig.

Innerhalb jeder Sechserreihe trägt das Modell jeweils ein anderes Kostüm und seine auffälligen Tätowierungen sind mehr oder weniger exponiert – sehr stark bei knapper Bekleidung wie einer Miederhose, weniger bei einem knielangen Kostüm und nur einmal bleiben sie gänzlich verdeckt, wenn eine Rückenansicht im langen, blauen Samtkleid gezeigt wird. Sämtliche Kostümierungen stammen aus dem Fundus der Burlesque-Tänzerin und huldigen standesgemäß dem teilweise üppigen Stil vergangener Tage – ich nehme an, vor allem der 40er bis 60er des vergangenen Jahrhunderts.

Natürlich ist dieses Modell vor der Kamera prägend für den Bilderzyklus; seine Aufmachung darf man ruhig speziell nennen. Inszenierte Haltung, Bekleidung und Tätowierung sind also vordringliches Thema der Serie, und sicherlich sind die Reihenbilder somit eine – durchaus augenzwinkernde – Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Modefotografie.

Was aber hat Yves Noir mit seiner ebenfalls speziellen Umsetzung der Begegnung mit diesem Modell getan? Was bewirken diese Reihungen? Was unterscheidet sie essentiell von einer Reihe loser Einzelbilder – z.B. von jeder Kostümierung eines oder aber auch von jeder Kostümierung eine Serie von sechs? Warum die Montagen zu jeweils einem Gesamtbild?

Zuerst einmal ist solch ein Reihenbild eine Behauptung: Dies ist ein Bild.

Die sechs Einzelbilder sind zu einem Bild verschmolzen. Es sind keine Trennlinien zwischen den einzelnen Aufnahmen auszumachen, es gibt keine Kompartimente, sondern einen durchgängigen, in warmem weiß gehaltenen Hintergrund, vor dem die sechs Figuren nebeneinander stehen. In dem einen Fall, wo eine Figur seitlich angeschnitten ist, steht diese als erste am linken Rand, so dass auch dadurch keine Trennlinie zu einer nächsten Figur entstehen kann.

Die sechs Einzelfiguren stehen also – so die Behauptung – in einem Raum und bilden ein Bild.

Obwohl wir wissen, dass dies zu bewerkstelligen durch die Studiotechnik (perfekte Ausleuchtung, fotografieren mit fixierter Kamera und gleichbleibenden Belichtungswerten) und die digitale Nachbearbeitung kein Hexenwerk ist, und obwohl der Effekt der Mehrfachabbildung einer Figur auf einem Bild eine lange Tradition hat, bleibt die kleine Irritation dieses Widerspruches – wir sehen die Figur mehrfach in einem Raum und wissen zugleich, dass dies bei der Aufnahme nicht der Fall war, sondern durch einen technischen Vorgang geschaffen wurde – noch immer lebendig.

Man darf meine Formulierung, die Figuren stünden in einem Raum, sogleich wieder relativieren, denn zum einen ist die Montage evident und zum anderen ist eigentlich gar kein Raum zu sehen – jede Kante, jeder Lichtabfall, jeder Schatten, jedes Referenzobjekt, das eine Raumdimension oder ein Größenverhältnis erkennen ließe, fehlt.

Also ein zweiter, etwas weniger offensichtlicher Widerspruch: Wir wissen, dass da ein Raum sein muss, aber wir können ihn nicht ausmachen. Da sind zugleich Raum und Nichtraum.

Der Nichtraum entsteht also, weil ein und dasselbe Objekt sechs Mal vorkommt und weil wir keine klare Definition seiner Umgebung sehen. Von einem Raum wissen wir dennoch implizit, weil jede einzelne Figur gar nicht anders, als innerhalb eines Raumes vorhanden sein und aufgenommen werden konnte und weil sie innerhalb einer Reihe (mit einer Ausnahme) in verschiedenen Größen, also näher und weiter von Kamera bzw. Auge entfernt erscheint. Und damit kommt das ins Spiel, was wir als Perspektive kennen, also die optische Übertragung von drei auf zwei Dimensionen, vom Raum (des Aufnahmeortes) auf die Fläche (des Bildträgers). Wir schließen also von den unterschiedlichen Größen einer Figur (die in Wirklichkeit immer gleich groß ist) auf einer Fläche zurück auf ihre Staffelung in einem Raum.

Und jetzt beginnen die Reihenbilder von Yves Noir schillernd zu werden.

Es ist offensichtlich, dass es dem Fotografen nicht um eine Illusion im Sinne eines verblüffenden Tricks geht, indem er zum Beispiel eine Figur mit sich selbst interagieren lässt, es geht ihm noch nicht einmal um eine korrekte Perspektiv-Konstruktion.

Gleich in mehrfacher Hinsicht treibt er ein Spiel mit diesen Begrifflichkeiten und Erscheinungen Raum, Fläche und Perspektive. Die Variationen reichen dabei von reiner Repetition – sechsfacher, exakt gleicher Wiederholung einer Aufnahme (blaues Kleid) – über ein Wechselspiel von klein/groß (oder näher/entfernter) bis hin zu scheinbar regelfreier Anordnung von verschiedenen Posen und Ausschnitten.

Durch das mehr oder weniger starke, bisweilen kaum merkliche Verschieben der Einzelfiguren innerhalb einer Sechsergruppe nach oben oder unten, vorne oder hinten, ohne Perspektivtreue und ohne Erkennbarkeit, ob diese Verschiebungen bei der Aufnahme oder erst bei der Montage entschieden wurden, entsteht – ähnlich wie es Oskar Schlemmer in seinen Gemälden von Figuren im Raum angestrebt hat – ein Bewusstsein für den Raum, in dem der Bildbetrachter selbst weilt. Schlemmer versuchte durch einen Ausschnitt in der hinteren gemalten Wand – z.B. eine Art Fenster – einen zweiten Raum hinter dem ersten Raum der Figuren zu evozieren – also einen Raum hinter dem Bild – und dadurch die Idee nahe zu legen, dass es ja auch einen Raum vor dem Bild, nämlich einen dritten Raum, den Raum des Betrachters gibt. Eine Idee, die der des Verfremdungseffektes auf der Theaterbühne entspricht, mit dem Brecht erreichen wollte, dass sich der Theaterbesucher seiner selbst als einen Theaterschauenden bewusst wird und auf diese Weise die Identifikation mit dem Spiel oder den Figuren des Spiels und damit mit der Fiktion unterbricht.

Wichtig für diesen Bewusstseins-Vorgang ist bei Yves Noirs „outfits“ neben der Missachtung der korrekten Perspektive, dass die Verschiebungen der Einzelbilder ebenso wie die tatsächlichen Unterschiede scheinbar gleicher Einzelfiguren bisweilen so marginal sind, dass sie erst nach sehr genauem Hinschauen oder gar durch Nachmessen (was dem Bildbetrachter allerdings in der Regel verwehrt bleibt) auszumachen sind. Erst wenn man einsehen muss, dass der erste Blick getrogen hat und das vermeintlich Gleichbleibende eben doch Änderungen unterworfen ist, lernt man allmählich das Kalkül des Fotografen zu durchschauen. Das Kalkül besteht in der Verunsicherung des Betrachters.

Je weniger Gewissheit ich mir über die genauen Konstruktionen der Aufnahmesituationen und der Montageeingriffe verschaffen kann, um so mehr tun sich Fragen nach den Hintergründen auf. 

So werde ich mir als Betrachter zunehmend des Vorgangs des fotografischen Aktes bewusst. Ich werde mir zudem der Fragen des räumlichen Sehens und der Darstellung des Raumes auf einer Fläche mittels der Perspektive bewusst. Wie sich eine Räumlichkeitserfahrung vortäuschen lässt, wie das Regelwerk der von Filippo Brunelleschi im Jahre 1410 erstmals mathematisch exakt aufgezeichneten Zentralperspektive funktioniert und wie die Bilddarstellungen über ein halbes Jahrtausend hinweg von diesem Regelwerk dominiert wurden. Man könnte sogar sagen: Unser Blick wurde domestiziert. Erst durch die expressiven Tendenzen der Bildenden Kunst um den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dieses Diktat der Perspektive konstruktiv zerstört. Auf einem einzelnen fotografischen Bild bleibt es bis heute aber vorherrschend, weil die Fotografie eben aus einer Projektionsapparatur, der Kamera stammt.

Die Reihenbilder von Yves Noir machen alle diese Implikationen bewusst, ohne – und das scheint mir essentiell wichtig – sich einer spektakulären oder vordergründigen Collagetechnik zu bedienen, die durch Verzerrungen des Raumgefüges zu sicherlich ähnlichen Aussagen käme.

Vielmehr spielt Yves Noir mit seinen Reihen subtiler und durchaus auch musikalisch mit diesen Fragen. Man kann Rhythmen und Melodie-Linien ausmachen und sogar feststellen, dass es agogische Erscheinungen, Schwankungen im Tempo gibt, denn die einzelnen Teilstücke innerhalb einer Sechsergruppe sind keineswegs immer gleich breit. Da gibt es durch den Platzanspruch einzelner Figurenausschnitte notwendige Verbreiterungen eines Abschnitts und ausgleichende Kompressionen durch die Wahl einer schmalen Figur in der Nachbarschaft, um in der Summe über sechs zu dem gleichbleibenden Gesamtmaß zu gelangen.

Man kann die Sechsergruppen aber auch als Ausschnitte sehen, die langen Friesen entnommen sind, Einzeltakte oder Motive aus einer über hunderte von Takten fortdauernden Komposition, wobei die Weiterführung das eine Mal als gleichbleibender Beat zu denken wäre – die Reihe mit dem blauen Samtkleid wäre ein Techno-Puls –, ein anderes Mal aber als eine schier unfassbare Folge von Variationen – wie bei Mozart.

Man kann in dem Vergnügen schwelgen, sich auch die möglichen Gesetzmäßigkeiten in der Fortsetzung der ›unordentlicheren‹ Reihen auszumalen oder gar auszurechnen. Es geht also auch um Reihen und Folgen, mathematische Ereignisse, deren Nähe zur Musik ja bekannt ist. 

Und so will ich am Ende eine Behauptung zu der Zahl sechs wagen. Warum hat Yves Noir seine Reihenbilder aus jeweils sechs Einzelbildern komponiert? Es gibt sechs verschiedene Inszenierungen von Zouzou la Vey, sechs Kostümierungen. Somit sind sechs mal sechs Bildabschnitte in der Serie vorhanden. Sechs, das ist die höchste gerade Zahl an Einzelbildern, die sich auf einen Blick ohne zu zählen absolut sicher erfassen lässt. In der Mitte von sechs Bildern befindet sich immer eine Leerstelle, keine zentrale Figur, um die sich die verbleibenden zur Linken und Rechten spiegeln lassen. Die Folge von sechs Bildern lässt sich als sechs einzelne Bilder, drei Paare, zwei Triolen oder eine Sechsergruppe lesen. Sechs – das sind die sechs Seiten eines Würfels.

Yves Noir arbeitet mit trefflich gezinkten Würfeln: Was wie der unwahrscheinliche, aber mögliche Zufall von sechs gleichen Augen hintereinander oder einer regelmäßigen Folge von geraden und ungeraden Augen aussieht oder aber wie eine völlig chaotische Wurf-Reihe… alles ist vorausgesehen vom Spieler, der den Betrachter mit den Ergebnissen dazu verführt, über das Augenscheinliche, das coole Kostüm der Serie in die mehrschichtigen Tiefen ästhetischer und historischer Zusammenhänge vorzudringen.

Go back